Die Frage danach, wie wir zukünftig leben und arbeiten werden, beschäftigt schon seit Langem nicht mehr nur alleine Trend- und Zukunftsforscher. Die fortschreitende Digitalisierung, der demografische Wandel, die Globalisierung und nicht zuletzt die COVID-19-Pandemie haben uns zu einem unvorhergesehen Wandel in der Arbeitswelt geführt.
Die Frage lautet: Wie lässt er sich mitgestalten?
Seit einigen Jahren kursiert in den populärwissenschaftlichen Debatten rund um die Arbeitswelt ein Begriff, der als Leitbild für selbstbestimmte und flexible Arbeitsformen steht. Obwohl er rund 50 Jahre alt ist, rangiert er mit Schlagworten wie „Arbeit 4.0“ oder „Zukunft der Arbeit“. >Das Zukunftsinstitut zählt ihn zu einem der aktuellen Megatrends. Die Rede ist von New Work.
Was es mit dem Begriff auf sich hat, woher er ursprünglich stammt und wie viel »Neue Arbeit« sich tatsächlich in modernen Arbeitsformen finden lässt, ist Bestandteil der dreiteiligen Themenreihe um New Work. Im ersten Teil schauen wir uns an, auf welche Weise New Work heute gedacht wird und wie es in Unternehmen zur Anwendung kommt.
Inhaltsverzeichnis
Die Arbeitswelt im Wandel
Wie Arbeit organisiert wird, hat sich über die Jahrhunderte mehrmals verändert: Vor dem Zeitalter der Industrialisierung war der überwiegende Teil der Bevölkerung landwirtschaftlich tätig und versorgte sich mehr oder weniger selbst. Im Zuge der großen Einwanderungswellen um 1900 begann der Übergang in die Phase der Industriellen Revolution.
In jener Zeit hatte die Arbeit vieler Menschen vornehmlich den Zweck, eine bestimmte, repetitive und standardisierte Aufgabe auszuführen. Objektivierung, Standardisierung und Rationalisierung des Arbeitsprozesses zur Steigerung der Arbeitsproduktivität wurde zur »ultima ratio« der Verwertungsstrategie der großen Industrieanlagen. Wandel gab es also schon immer. Der Unterschied ist: Während sich der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft während vieler Jahrzehnte vollzog, geschieht der aktuelle Wandel wesentlich schneller und radikaler.
Wie lässt sich Arbeit also in Zeiten von Künstlicher Intelligenz, globalisierten Märkten und steigenden Ansprüchen der Beschäftigten nach mehr Selbstentfaltung denken und gestalten?
Traditionelle und eher bürokratisch ausgerichtete Managementsysteme im Sinne von „command and control“ scheinen mit diesen Veränderungen nicht mehr Schritt halten zu können. Gegenüber den Anforderungen und Möglichkeiten einer Informations- und Wissensgesellschaft gelten sie als ungeeignet und veraltet.
»New Work« lautet scheinbar das Zauberwort, das an dieser Stelle vielerorts gerufen wird. Was also steckt dahinter?
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New Work als Frame flexibler Arbeitsmodelle
Eine einschlägige Definition von New Work existiert nicht. Die Auslegungsvariationen erstrecken sich vom Büro-Kickertisch bis zum Megatrend. Gemeinhin werden unter der Begrifflichkeit New Work nach dem heutigen Verständnis Trends und Entwicklungen in der Arbeitswelt aufgefasst, die auf eine stärkere Flexibilität und mehr Selbstorganisation zielen. Während unter tayloristisch-fordistischen Arbeitsbedingungen Prämissen wie Individualität, Flexibilisierung und Autonomie im Arbeitshandeln als Störfaktoren angesehen wurden und durch rigide Kontrollmechanismen weitestgehend unterbunden wurden, werden sie hingegen heute verstärkt eingefordert.
Und zwar von Beschäftigten wie Unternehmen gleichermaßen: Auf der einen Seite sind es die veränderten Ansprüche der Beschäftigten nach Aspekten wie Selbstverwirklichung, Sinnhaftigkeit, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen, Mitbestimmung und Teilhabe, selbstgewählte Arbeitszeiten und -orte, die ganz oben auf der Agenda stehen.
Auf der anderen Seite sind es die erhöhten Ansprüche der Unternehmen an die Beschäftigten nach einer erweiterten Eigenverantwortlichkeit. Eng damit verbunden ist ein vertiefter Zugriff auf die subjektiven Qualitäten und Ressourcen der Beschäftigten zum Zwecke der betrieblichen Verwertung. Sämtliche Leistungspotenziale der Beschäftigten wie ihre Kreativität, ihre Kooperationsfähigkeit, ihre Emotionen oder Loyalität sollen vollumfänglich ausgeschöpft werden.
Zahlreiche industriesoziologische Studien belegen: Beide Seiten sind Triebfedern eines zunehmenden Subjektivierungsprozesses im Arbeitshandeln.
Was sind die Auswirkungen?
Die strikte Trennung von Arbeit und Leben weicht allmählich auf. Im Fachjargon bezeichnet man diese Entwicklung als Entgrenzung. Da New Work zwar nicht ausschließlich, aber vornehmlich unter dem Credo von Agilität, Flexibilität und Work-Life-Blending betrachtet wird, kommt man nicht umhin, die heutigen Umsetzungsversuche von New Work vor diesem Hintergrund kritisch zu diskutieren.
Das Zukunftsinstitut meint in Hinblick auf New Work Folgendes:
Statt einer perfekten Aufteilung der Zeit zwischen Job und Freizeit heißt das neue Lebensmotto „Work-Life-Blending“: Ein fließender Übergang zwischen Arbeits- und Privatleben ermöglicht den Arbeitnehmern, flexibel auf private Umstände zu reagieren, selbstbestimmt zu arbeiten und damit produktiver zu sein.
>https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-new-work/
Und geht noch einen Schritt weiter:
Das schafft nicht nur Entspannung und mehr Lebensqualität, sondern steigert auch die Freude an der Arbeit.
>https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-new-work/
Aber nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis ist New Work schon lange angekommen. Die ehemalige Daimler AG beispielsweise hatte bereits 2016 sein altes Arbeitskonzept komplett umgewandelt und den Wünschen seiner Mitarbeiter angepasst:
Über 80.000 Mitarbeiter aus Verwaltung und Entwicklung wurden gefragt: „Wie wollt ihr in Zukunft arbeiten?“ Das Ergebnis: Über 80 Prozent der Befragten wünschten sich mehr zeitliche und räumliche Autonomie. Die Angestellten durften von da an laut Betriebsvereinbarung Arbeitszeit und -ort frei mitbestimmen. Und New Work sollte bei der Daimler AG nicht beim Homeoffice enden: Als Konsequenz wurde vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche alles auf den Prüfstand gestellt. Von der Firmenhierarchie, über Meetingkultur bis hin zur Leistungsbewertung.
Auf der Firmenkultur-Seite der Mercedes-Benz-Group (ehemalige Daimler AG), lässt sich derzeit Folgendes entnehmen:
Die Arbeitswelt verändert sich. Und Mercedes-Benz verändert sich mit. Teilen Sie sich Ihre Arbeitszeit flexibel ein. Arbeiten Sie von Zuhause. Machen Sie eine Auszeit oder studieren Sie nebenher. Wir möchten, dass sich der Job flexibel an Ihre Lebenssituation anpasst. Nicht umgekehrt.
>https://group.mercedes-benz.com/karriere/ueber-uns/kultur-benefits/flexibles-arbeiten/
Das Sabbatical ist im Grunde das neue Dienstauto. Und es gibt zahlreiche weitere Beispiele. Was in Beratungs- und IT-Unternehmen schon längst Alltag geworden ist, holen die traditionellen Firmen langsam aber stetig nach.
Und die Schattenseiten?
So schön das alles klingt, so trügerisch kann es auch sein. Denn es mehren sich die Zeichen der Ernüchterung.
Im Rahmen einer Studie für das Arbeitsministerium fanden Experten von nextpractise heraus, dass für einen Großteil der Erwerbspersonen flexibles und mobiles Arbeiten nicht nur mit Selbstbestimmung, sondern auch mit Leistungsdruck und sozialer Isolation verbunden wird. Was sich für den Einen wie eine Befreiung anfühlt, führt für den Anderen zur Dauerbelastung. Verschwimmt die Grenze zwischen privater und beruflicher Welt, führen die ständigen Anpassungsleistungen nachweislich zu hohen körperlichen und psychischen Belastungen:
Der radikale Wandel in der Arbeitswelt mit Automatisierung, Flexibilisierung und Digitalisierung hat zu tiefgreifenden Veränderungen im Erleben der Beteiligten und Betroffenen geführt. Aktuell empfindet nur jede fünfte Erwerbsperson ihre Arbeitssituation als nahezu ideal. Für knapp die Hälfte ist sie weit davon entfernt. Ein Großteil der Erwerbspersonen verbindet mit der heutigen Arbeitswelt überwiegend Druck und Stress.
>https://www.nextpractice.de/arbeiten-4-0/
Der arbeitende Mensch organisiert nicht mehr seinen Job, sonder der Job organisiert ihn.
Und hierbei handelt es sich um kein deutsches Phänomen. Der britische Guardian beispielsweise kommentierte, dass im Vereinigten Königreich schätzungsweise zehn Millionen Arbeitstage in Folge von Stressbelastung verloren gingen. In der Absicht, die viel beschworene Work-Life-Balance auszugleichen – also die Kunst, Arbeit und Privatleben miteinander zu vereinbaren –, bauen auch in Großbritannien viele Unternehmen sowie die Regierung auf flexible und mobile Arbeitsmodelle. Allerdings schlagen auch hier Forscher Alarm, dass gerade diese den Stresspegel nur vergrößern. Denn die Realität ist: Immer mehr Arbeitnehmer quetschen immer mehr Leistung und Ergebnisse in ihren Tag, stehen ständig unter Strom, schalten nie ab. Arbeitsverdichtung, nennen Fachleute das.
In Frankreich intervenierte der Gesetzgeber: Ein neues Arbeitsgesetz, das zum Januar 2017 in Kraft trat, soll Arbeitnehmer vor ständiger Erreichbarkeit schützen und verpflichtet Unternehmen mit mehr als 50 Angestellten, Regelungen in Kraft zu setzen, die das Einsickern von Arbeit ins Privatleben reduzieren sollen. „Das Recht auf Abschalten“, wird es genannt. Ein bis dato weltweit einmaliges Gesetz, dessen Beispiel seither einige andere Länder gefolgt sind.
In der Soziologie existiert die These für einen neuen Leittypus von Arbeitskraft: Der Arbeitskraftunternehmer. Diese Figur versinnbildlicht die zentrale Annahme, dass die arbeitende Person zum Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft wird und zunehmend dazu genötigt ist, Arbeitsverausgabung, Vermarktung und Lebensführung effizienzorientiert zu verwalten. Der Zugriff auf seine Potenziale und seinen gesamten Lebenshintergrund vollzieht sich intensiver als bei allen vorherigen Leittypen.
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Wie geht es weiter?
Die Politik reagiert in Deutschland auf diese Herausforderungen langsam und auf ihre Weise. Aber darauf kommt es gar nicht an. Sondern auf die Gesellschaft. Einfallsreichtum und Lust auf Neues lässt sich nicht politisch diktieren. Der Wandel in der Arbeitswelt ist tiefgreifend: ökonomisch, sozial, kulturell. Die Debatte um unsere zukünftige Arbeitsrealität sollten wir weder außer Acht lassen, noch staatlich berufenen Beamten überlassen. Wir selbst sind es, die die Dinge reflektieren, die entsprechenden Fragen stellen sollten: Welchen Stellenwert schreiben wir Arbeit in unserem Leben zu? Wie viel Entgrenzung lassen wir zu – räumlich, zeitlich, technisch?
Eines bleibt vorab festzuhalten: Die Intention, die hinter der ursprünglichen Neuen Arbeit steckt, wie sie Ende der 1970er Jahre von Frithjof Bergmann initiiert wurde, war es nie, die Technischen Fortschritte um ihrer selbst willen einzusetzen. Und es geht bei New Work nicht nur um gesundes Kantinenessen oder eine Führungskräftewahl. Es geht auch nicht um die Abflachung von Hierarchien oder agile Projektplanung. Über derart isolierte Maßnahmen geht die eigentliche, die ursprüngliche Neue Arbeit hinaus. Ihre Wurzeln reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Woher und vor allem, von wem sie stammen, wird das Thema des zweiten Teils der Beitragsreihe von New Work – Auf den Spuren einer neuen Arbeitskultur.