Ungleichheit in Deutschland: Werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher? Und: Geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander? Diesen in Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers diskutierten Fragen gehen wir im Artikel nach.
Eine Suche nach einfachen Antworten wird zwangsläufig scheitern. Denn obwohl diese Fragen sehr eindeutige Anliegen haben, beinhalten sie gleichzeitig eine Komplexität und Vielschichtigkeit.
Auch wir werden keine eindeutigen Antworten finden. Vielmehr beleuchten wir die Fragestellungen, überlegen, was hinter den Begriffen Armut und Reichtum steckt, welche Zahlen uns wie Aufschluss über die Lage in Deutschland geben können und ob Ungleichheit per se schlecht ist. Dabei untersuchen wir folgende zwei Dimensionen der Ungleichheit:
- Die Einkommensungleichheit
- Die Vermögensungleichheit
Und klären dabei:
- Wie Armut und Reichtum in der Wissenschaft definiert werden
- Wann man arm bzw. reich ist
- Wie die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland aussieht
- Und warum soziale Mobilität dabei eine große Rolle spielt.
Zum Schluss werfen wir noch einen Blick auf die möglichen Auswirkungen von Ungleichheit.
Inhaltsverzeichnis
Wann bin ich armutsgefährdet?
In Deutschland gilt man als armutsgefährdet, wenn man weniger als 60% der Nettoeinkommen erhält. Das klingt soweit unkompliziert, basiert aber auf einem komplexen Konstrukt aus datenbasierten Kennzahlen und sozialwissenschaftlichen Definitionen. Um den ersten Satz zu verstehen und einordnen zu können, werden wir zunächst Begriffe wie absolute und relative Armut klären, einen Blick auf die Datenherkunft werfen und uns Gedanken über die Auswirkungen dieser Aussage machen.
Was ist existentielle Armut?
Absolute bzw. existenzielle Armut bedeutet, dass man nicht in der Lage ist, seine physischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Grundversorgung zu befriedigen. Das Wort „absolut“ ist diesem Falle ein wenig irre führend, da das absolute Minimum weder einfach noch unstrittig bestimmbar ist: bei der Bewertung fließen der gesellschaftliche Entwicklungsstand und Möglichkeiten zur Befriedigung von Grundbedürfnissen hinein.¹
In Deutschland sollte es aufgrund der Sozialsysteme keine absolute Armut geben, doch nicht immer können oder wollen Menschen die Unterstützung vom Staat in Anspruch nehmen.
Was ist relative Armut?
Das Konzept der relativen Armut oder auch Einkommensarmut beruht dagegen auf sozialer Teilhabe. Das Individuum wird ins Verhältnis zur Gesellschaft gesetzt, wobei eine Bewertung bzgl. der Teilnahme am „normalen“ gesellschaftlichen Leben erfolgt. Manche können sich beispielsweise keine Vereinsmitgliedschaften leisten; andere haben nicht genug Geld, um an Aktivitäten im Freundeskreis teilzunehmen und leben zunehmend isoliert. Grundlage dieser Bewertung sind die Einkommensdaten, die u.a. auf dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) beruhen.
Das SOEP ist die größte und am längsten laufende Langzeitstudie in Deutschland. Seit 1984 werden jedes Jahr rund 30.000 Personen in etwa 15.000 Haushalten von einen Umfrageinstitut befragt. Dabei werden immer die selben Menschen befragt, um langfristige gesellschaftliche Trends und Entwicklungen von Lebensläufen analysieren zu können.
Das SOEP erhebt jährlich Daten zu den monatlichen Netto- und Bruttoeinkommen der jeweiligen Haushalte. Die Nettoeinkünfte werden in Äquivalenzeinkommen umgerechnet und an die Preisentwicklung angepasst, um Pro-Kopf-Vergleiche durchführen zu kommen. Berechnen lassen sich dadurch:
- die Durchschnittseinkommen (die Aufsummierung aller Einkommen geteilt durch die Personenanzahl)
- und die Medianeinkommen (die Aufreihung aller Einkommen der Größe nach und die Bestimmung des Einkommens der Person, die genau in der Mitte steht).
Beide Werte können übereinstimmen, tun es aber meistens nicht. Sind die Durchschnittseinkommen höher als die Medianeinkommen, so ist die Differenz beider Kennzahlen ein erster Indikator für den Grad der Einkommensungleichheit.
Wann bin ich relativ arm?
Nachdem wir uns die Definitionen für absolute und relative Armut angeschaut und uns einen Überblick über erste Kennzahlen verschafft haben, können wir nun einen Blick auf konkrete Zahlen werfen. Grundlage dieser Zahlen ist der Datenreport 2021, der u.a. die Einkommensdaten von 1995 bis 2018 wiedergibt und ausgewertet.²
Die Zahlen, die ich aus diesem Bericht verwende, beruhen auf dem Begriff der relativen Armut. Zusätzlich unterscheidet der Report Monats- und Jahresnettoeinkommen. Das Jahreseinkommen enthält auch unregelmäßige Einkünfte sowie unterjährige Sonderzahlungen und bezieht sich auf das Vorjahr, während das Monatseinkommen enger gefasst ist und sich auf das jeweils angegebene Jahr bezieht.
Wie wir sehen, liegt das Durchschnittseinkommen über dem Medianeinkommen. Dies könnte darauf hinweisen, dass wenige Personen mit sehr hohen Einkommen die Werte nach oben treiben. Bei einem Medianeinkommen von 1.733 Euro liegt die Armutsgefährdung laut Definition bei knapp unter 1.040 Euro. Dass man in diesem Zusammenhang von Armutsgefährdung spricht und nicht von Armut, hängt damit zusammen, dass – wie bereits oben erwähnt – das Armutskonzept sehr komplex ist und das Einkommen nur ein indirekter Indikator für Armut darstellt.
2018 lag die Armutsgefährdungsquote (der Anteil der Personen, die als armutsgefährdet gelten) bei 15,8%. Damit ist die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für jede 6. Person nur eingeschränkt möglich.
Was ist Reichtum?
Bevor wir Aussagen zur Einkommensungleichheit machen können, werden wir uns die andere Seite der Verteilung anschauen und klären, was Wohlstand bzw. Reichtum ist.
Laut Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet Reichtum die wirtschaftliche Situation einer Person, in der die Summe der verfügbaren Güter und Vermögenswerte das durchschnittliche Niveau des materiellen Wohlstands in einer Gesellschaft wesentlich übersteigt.³
Ebenso wie Armut ist auch Reichtum ein relativer Begriff zur Beschreibung der Ressourcenausstattung von Haushalten. Nur steht hier weniger die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Mittelpunkt als vielmehr die Möglichkeiten, die sich darüber hinaus ergeben.
Dabei speist sich Reichtum sowohl aus Einkommen als auch aus Vermögen. Für die Betrachtung der Einkommensungleichheit lassen wir die Vermögen zunächst außen vor und kommen erst im nächsten Teil wieder darauf zurück.
Darüber, ab welchem Einkommen jemand als reich bezeichnet werden kann, herrscht in der Literatur keine Einigkeit und auch die individuellen Wahrnehmungen in Bezug auf Reichtum gehen auseinander (in Befragungen liegen die Schätzungen der Teilnehmenden meist zwischen 7.000 und 10.000 Euro monatlichen Nettoeinkommens).⁴
Wann gelte ich als reich?
Laut amtlicher Statistik wird als reich bezeichnet, wer über ein Nettoeinkommen von mindestens 200% der Medianeinkommen verfügt; ab 300% gilt man als sehr reich. Dies wären laut der Destatis-Untersuchung, auf die wir uns hier beziehen, 3.466 Euro bezogen auf die monatlich erhobenen Nettoeinkommen bzw. 44.862 Euro bezogen auf die Vorjahresnettoeinkommen. Mit 5.199 Euro monatlichem und 67.293 Euro Jahreseinkommen ist man sehr reich.
Gemessen an der Gesamtbevölkerung sind 5,2% der Menschen reich beziehungsweise 1,2% sehr reich. 1995-1999 lagen die Werte im Schnitt bei 4,5% und 1,0%.
Problematisch bei der Datenerhebung ist die Tatsache, dass sie auf freiwilliger Basis erfolgt und mit zunehmendem Einkommen die Bereitschaft zur Auskunft sinkt. Die genannten Zahlen und auch die folgenden sind demnach mit einer gewissen Vorsicht zu genießen und es ist davon auszugehen, dass die Spitzeneinkommen höher sind als hier berechnet.
Was uns eine Zahl über die Ungleichheit sagt: der Gini-Koeffizient
Wir haben bereits festgestellt, dass ein erster Hinweis auf den Grad der Einkommensungleichheit beim Vergleich der Median- mit den Durchschnittseinkommen ablesbar ist. Ein weiterer Indikator, den wir zur Einschätzung der Ungleichheit in Deutschland benötigen, ist der Gini-Koeffizient. Dabei handelt es sich um ein statistisches Standardmaß zur Messung der Ungleichheit einer Verteilung und nimmt Werte zwischen 0 und 1 an. Im Falle der Einkommensverteilung bedeutet ein Gini-Koeffizient von 0, dass alle befragten Personen das gleiche Einkommen haben. Verfügt eine Person über alle Einkommen, liegt der Gini-Koeffizient bei 1.
Zu diesen Zahlen möchte ich zwei Dinge anmerken. Zum einen ist die Ungleichheit bei den Jahreseinkommen höher als bei den monatlichen, da sie zusätzlich unregelmäßige Zahlungen beinhalten. Zum anderen stieg die Ungleichheit seit Ende der 90er Jahre an, wobei sie seit einigen Jahren auf diesem Niveau verharrt. Grund für die Stagnation sind z.B. die sinkende Arbeitslosigkeit und politische Maßnahmen wie die Einführung des Mindestlohns.
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Soziale Mobilität: Wie groß sind die Chancen auf sozialen Aufstieg?
Wir haben festgestellt, dass sowohl die Armutsgefährdungsquote als auch die der Gini-Koeffizient seit den 90er Jahren stetig ansteigt, aber in den letzten Jahren auf einem ähnlichen Niveau verharrt. Eine weitere Dimension ist die soziale Mobilität. Sie verrät uns etwas darüber, wie durchlässig soziale Schichten bzw. Einkommensklassen sind und wie groß die Chance ist, seine jetzige ökonomische Situation in der Zukunft zu verbessern beziehungsweise zu verschlechtern.
Der Datenreport enthält hierzu beispielsweise Daten über die Einkommensdynamik und zeigt wie stabil beziehungsweise mobil ein bestimmter Bevölkerungsanteil gegenüber dem Ausgangszeitpunkt ist.⁵
Die Einkommen der Personen bzw. Haushalte werden dabei in Quintile unterteilt, wobei ein Quintil 20% der nach der Höhe des Einkommens geschichteten Bevölkerung umfasst. So kann man sehen, dass zwischen 2014 und 2018 62,8% der Personen des untersten Quintils auch in dieser Einkommensgruppe verblieb, zwischen 1994 und 1998 waren es nur 53,7%. Den Aufstieg schafften 37,3%, in den 90ern waren es noch 46,3%.
Es lässt sich also bereits erkennen, dass nicht nur die Ungleichheit zugenommen, sondern auch die Durchlässigkeit der Schichten abgenommen hat.
Auch in allen anderen Quintilen stieg in den letzten Jahrzehnten die Wahrscheinlichkeit für einen Verbleib, wobei die Verbleibequoten in den Quintilen 2 bis 4 deutlich geringer sind als im 1. oder 5. Quintil. Die Wahrscheinlichkeit eines Aufstiegs sank, lediglich die Wahrscheinlichkeit für einen Abstieg stieg im 2. Quintil, blieb im 3. und 4. Quintil gleich und sank im 5. Quintil.
Daraus lässt sich ableiten, dass 2/3 der unteren Einkommensgruppen auch in dieser Gruppe verharren und soziale Aufstiege für Personen in allen Einkommensgruppen schwieriger werden. Wer einmal armutsgefährdet ist, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit auch bleiben. Gleiches gilt für das oberste Quintil.
Vermögensungleichheit in Deutschland: Wer hat, dem wird gegeben
Da das Einkommen nur einen Teil des Wirtschaftsgeschehen beschreibt, widmen wir uns in diesem Abschnitt den Vermögen. Im Gegensatz zum Einkommen handelt es sich hier um eine Bestandsgröße, wird also zu einem Zeitpunkt bestimmt, während Einkommen als Stromgrößen in Perioden gemessen wird.
Gesellschaftlich gesehen erfüllt das private Vermögen 7 Funktionen:
- die Einkommenserzielungsfunktion (Zinsen, Mieten, etc.),
- die Nutzungsfunktion (bei Wohnimmobilien),
- die Sicherungsfunktion (bei Einkommensausfällen),
- die Vererbungsfunktion,
- die Sozialisationsfunktion (Erziehung und Ausbildung von Kindern),
- die Prestigefunktion
- und die Machtfunktion.
Damit kommt den privaten Vermögen eine ebenso große Bedeutung zu wie den privaten Einkommen.
Die Datenbasis zur Bewertung der Vermögensverteilung stammt wieder aus dem SOEP, wobei sich die aktuellen Zahlen auf das Jahr 2017 beziehen. Das durchschnittliche Nettovermögen einer erwachsenen Person belief sich 2017 auf 105.655 Euro (tatsächlich liegt die Zahl bei 111.284 Euro, da ab 2017 auch Fahrzeugwerte und Studienkredite abgefragt wurden). Dagegen liegt der Medianwert bei 21.500 Euro und damit deutlich unter dem Durchschnitt.
Die Differenz liefert wieder ein erstes Indiz für die ungleiche Verteilung privater Vermögen.
Wenn die untere Hälfte der Bevölkerung weniger als 21.500 Euro Vermögen besitzt, heißt das, dass der Durchschnittswert durch wenige hohe Vermögen nach oben getrieben wird.
Das unterste Prozent der Bevölkerung verfügt über ein „Vermögen“ von minus 22.987 Euro (2007 waren es noch minus 30.000 Euro), während das oberste Prozent im Schnitt ein Vermögen von 1.071.825 Euro (2007 waren es 813.943 Euro) besitzt. Am Gini-Koeffizienten können wir ablesen, dass die Ungleichheit gesunken, aber deutlich höher als bei den privaten Einkommen ist.
Warum die Zahlen uns kein vollständiges Bild liefern
Bei der Bewertung dieser Zahlen ist zu bedenken, dass es sich auch hier um freiwillige Bevölkerungsbefragungen handelt, an denen Multimillionäre kaum und Milliardäre gar nicht erfasst werden (aktuell haben 153 Milliardäre in Deutschland ihren Wohnsitz⁶). Durch die Abschaffung der Vermögenssteuer fehlt zudem die administrative Basis zur Messung der Vermögen. Werte wie das durchschnittliche Vermögen dürften höher ausfallen als hier gemessen.
Vermögensstrukturen
Die Vermögenssteigerungen der letzten Jahre, die sich durch die gesamte Bevölkerung ziehen, sind zum Teil auf Wertsteigerungen bei Immobilien und Wertpapieren zurückzuführen.
Was uns auch schon zur Struktur der Vermögen bringt. Unter allen vermögensbesitzenden Personen macht das Geldvermögen mit durchschnittlich 36.805 Euro einen eher geringeren Teil des Gesamtvermögens aus.
Den größten Posten machen die Betriebsvermögen aus, die im Schnitt bei 266.816 Euro liegen, über die aber nur 4% der erwachsenen Bevölkerung verfügen.
Der Wert von selbstgenutzten Wohneigentum liegt im Schnitt bei 171.997 und betrifft 39% der Bevölkerung.
Dass die privaten Vermögen so ungleich verteilt sind, ergibt sich auch aus ihrer Herkunft. Auf der einen Seite generiert Vermögen noch mehr Vermögen (bspw. durch Kapitalerträge oder Mieteinnahmen), auf der anderen Seite spielen Erbschaften und Schenkungen eine bedeutende Rolle bei Aufbau, Vermehrung oder Erhalt von Vermögen. So erhalten Personen, die selbst ein überdurchschnittliches Vermögen ansparen konnten, statistisch gesehen häufig auch höhere Erbschafts- bzw. Schenkungsbeträge⁷.
Ist Ungleichheit gut oder schlecht?
Allein der Umstand, dass Ungleichheit (in unserem Falle Einkommens- und Vermögensungleichheit) in der Gesellschaft herrscht, ist noch nicht problematisch. Ungleichheit wird es immer geben und manche behaupten sogar, dass dies etwas positives ist. Ungleiche Einkommen würden den freien Wettbewerb begünstigen und Anreize schaffen, die entsprechenden Berufe zu ergreifen. Doch bei zunehmender Ungleichheit und abnehmender sozialer Mobilität bleiben negative Folgen für die Gesellschaft nicht aus. Sowohl ökonomisch als auch sozial entstehen Kosten, die nur schwer wieder zu begleichen sind.
Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen von Ungleichheit
Lange Zeit gab es in der Forschung keinen Konsens über den Zusammenhang von Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum.⁸ Doch in den letzten Jahren zeigten Studien zunehmend, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum gibt.
Je größer die Ungleichheit – gemessen am Gini-Koeffizienten – desto mehr wird die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gehemmt und Wachstumsphasen verkürzt.
Grund dafür ist beispielsweise, dass Personen der unteren Einkommensgruppen nicht über genügend Mittel verfügen, um in Bildung zu investieren. Wenn hohe Einkommen weiter steigen, fördert dies auch nicht die Konjunktur. Überschüssiges Einkommen wird eher gespart und nicht in Konsum umgesetzt.
Gesellschaftlich gesehen, können steigende Ungleichheiten auch zur sozialen Spaltung führen, gerade auch dann, wenn ungleiche Einkommen oder Vermögen als ungerecht wahrgenommen werden. Vor allem untere Einkommen werden von einem großen Teil der Bevölkerung als ungerecht empfunden.⁹
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Fazit: Ungleichheit in Deutschland – Einfache Fragen. Einfache Antworten?
Zusammenfassend lässt sich anhand der Zahlen feststellen:
- Die Ungleichheit der Einkommen gemessen über den Gini-Koeffizienten ist seit den 90ern insgesamt gestiegen. In den letzten Jahren stagniert sie.
- Die Ungleichheit der Vermögen ist insgesamt sehr viel höher, auch wenn sie in den letzten Jahren leicht gesunken ist.
- Zudem sind sowohl die Einkommen als auch die Vermögen in allen Einkommensklassen gestiegen.
Die Frage, ob die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, lässt sich dennoch nicht klar beantworten. Das liegt zum einen daran, dass absolute Zahlen nur einen begrenzten Erkenntniswert liefern und auf freiwilliger Auskunftsbereitschaft basieren; zum anderen liegt es an den Definitionen für relative Armut und Reichtum, die immer auch vom Entwicklungsstand, den Werten und Erfordernissen einer Gesellschaft abhängen. Ist die Armut der 2000er Jahre die gleiche Armut wie 2018?
Anhand der stagnierenden beziehungsweise leicht gesunkenen Gini-Koeffizienten lässt sich auch die Frage nach der Schere zwischen arm und reich nicht endgültig beantworten.
Die Zahlen scheinen Hoffnung auf ein Ende der wachsenden Ungleichheit zu versprechen, aber gleichzeitig sagen sie uns, dass die Mobilität zwischen den Einkommens- und Vermögensklassen abgenommen hat.
Womit wir auch schon bei der Frage sind, ob Ungleichheit schlecht und ungerecht ist. Auch dies ist ein sehr komplexes Thema, über das zahlreiche wissenschaftliche Artikel erschienen sind – aber Einigkeit herrscht auch hier nicht.
Der Grundkonsens geht dahin, dass Ungleichheit per se nicht schlecht ist, dass wachsende Ungleichheit jedoch viele Probleme mit sich bringt, vor allem dann, wenn das System immer undurchlässiger wird.
Beim Thema Gerechtigkeit beziehungsweise Ungerechtigkeit wird es noch schwieriger. Aspekte der Ungerechtigkeit in der Ungleichheit sind zum Beispiel, dass ärmere und reichere Personen ungleiche Startbedingungen hatten und unverschuldet in die jeweilige Position gekommen sind. Auch ist Ungleichheit ungerecht, wenn jemand so wenig Geld zur Verfügung hat, dass er im Alltag kaum über die Runden kommt¹⁰. Beispielsweise können viele trotz Vollzeitjob nur teilweise am gesellschaftlichen Leben teilhaben, andere stecken im Minijobsystem fest.
Einige Untersuchungen beschäftigen sich damit, wie viel Ungleichheit auf Ungerechtigkeit beruht (anscheinend ein eher geringerer Teil), aber auch hier ist es schwierig zu endgültigen Schlüssen zu kommen.
Dennoch erfordern die Armutsgefährdungsquote von 15,8% und die sinkende soziale Mobilität eindeutig Maßnahmen zu ihrer Verbesserung. Und hier spielt wieder die Ungleichheit eine Rolle, wenn zu klären ist, ob man diesen Missständen durch Umverteilung und Investitionen beikommen kann.
Was würde zum Beispiel passieren, wenn mehr in Bildung investiert wird und das Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung ansteigt? Bedeutet eine höhere Berufsqualifizierung für alle auch ein höheres Einkommen?
Wie sich die Ungleichheit weiter entwickeln wird, lässt sich nur bedingt beurteilen. Die Zahlen von 2018 und den vorhergehenden Jahren geben uns gewisse Hinweise und Tendenzen, doch noch ist unklar, ob die Corona-Krise hier eine Zäsur darstellt. Es gibt erste Untersuchungen, nach denen vor allem Geringverdiener und Geringvermögende am meisten unter der wirtschaftlichen Lage zu leiden haben, Vermögende dagegen profitieren. Was die staatlichen Maßnahmen gebracht und welche gesellschaftlichen Veränderungen die soziale Ungleichheit wie beeinflussen, werden wir erst in ein paar Jahren beurteilen können.
Quellen
1: Irene Becker: Kritik am Konzept relativer Armut. S. 99f, https://www.wsi.de/data/wsimit_2017_02_becker.pdf (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
2: Der Datenreport 2021 ist ein Kooperationsprojekt des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, des Statistischen Bundesamts, des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/datenreport-artikel.html;jsessionid=27013C8A5435595290526A7EB7512C9E.live722?nn=238906 (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
3: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20512/reichtum (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
4: Judith Niehues, Maximilian Stockhausen: Reichtum: Wer zur Oberschicht gehört, https://www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/judith-niehues-maximilian-stockhausen-wer-zur-oberschicht-gehoert.html (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
5: Private Haushalte: Einkommen und Konsum: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021-kap-6.pdf?__blob=publicationFile, S. 42 (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
6: https://de.statista.com/themen/567/millionaere-milliardaere/
7: Private Haushalte: Einkommen und Konsum: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021-kap-6.pdf?__blob=publicationFile, S. 25 (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
8: Soziale Ungleichheit: Ausmass, Entwicklung, Folgen: https://www.boeckler.de/pdf/wsi_vm_faqs_2016.pdf, S. 10 (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
9: Ingeborg Breuer: Ungleichheit muss nicht gleichbedeutend mit Ungerechtigkeit sein: https://www.deutschlandfunk.de/gesellschaft-ungleichheit-muss-nicht-gleichbedeutend-mit.1148.de.html?dram:article_id=441061 (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).
10: Johannes Pennekamp: Wie ungerecht ist Ungleichheit: https://blogs.faz.net/fazit/2018/07/02/10123-10123/ (zuletzt aufgerufen am 07.10.2021).