„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen“
Mit diesem „Tweet“ machte Anfang 2015 eine 17 jährige Kölner Schülerin Schlagzeilen – und erntete viel Zustimmung. Diverse Talkshows bastelten daraus Themenabende. Ergebnis:
Die Diskussionen verliefen folgenlos im Sand.
Schade drum. Was könnte wichtiger sein als die Frage danach, was wir unseren Kindern mit auf den Weg geben möchten? Welche Aufgaben fallen dabei den Eltern zu und welche der Schule? Wie sieht es beispielsweise mit der finanziellen Bildung aus?
Fragen über Fragen, die mich regelmäßig beschäftigen und auf die ich in diesem Artikel Antworten suche.
Im ersten Abschnitt des Artikels gehe ich auf die Aufgaben der Schule ein, um mich im Anschluss kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Erkenntnisse werde ich nutzen, um die Frage Ist Geldbildung Aufgabe der Schule? zu beantworten.
Inhaltsverzeichnis
Aufgaben der Schule
Eine Schule […] ist eine Institution, deren Bildungsauftrag im Lehren und Lernen, also in der Vermittlung von Wissen und Können durch Lehrer an Schüler, aber auch in der Wertevermittlung und in der Erziehung und Bildung zu mündigen, sich verantwortlich in die Gesellschaft einbringenden Persönlichkeiten besteht.
Die Schule ist dabei eine Einrichtung von der Gesellschaft für die Gesellschaft. Sie dient gesellschaftlichen Interessen, die von den Erwartungen des Staates, der Eltern, der Schüler und nicht zuletzt der „Abnehmer“ geprägt sind.*1 Abnehmer sind zum Beispiel weiterführende Bildungseinrichtungen (Universitäten) und Arbeitgeber.
1717 wurde in Preußen erstmals die allgemeine Schulpflicht ausgerufen. Das Ziel:
Es „sollte der brauchbare, gottesfürchtige und königstreue Untertan erzogen werden“²
Heute werden der Schule gemeinhin drei Funktionen zugeschrieben:
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Qualifikation
Die wohl offensichtlichste Aufgabe der Schule ist es, Schüler mit einem Schulabschluss auszustatten, den sie im Anschluss gegen Berufs- und Studienchancen eintauschen.³ Sprich den Heranwachsenden sollen Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt werden, die sie befähigen sich in die Gesellschaft (berufliche wie privat) einzubringen.
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Integrationsfunktion
Den Schülern sollen Werte und Normen vermittelt werden, die eine reibungslose Integration in die Gesellschaft ermöglichen.
Dies bedeutet in der Bundesrepublik, den Heranwachsenden zu helfen, kritische Bürger einer demokratischen Gesellschaft zu werden.4
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Selektionsfunktion
Die Schule dient der Gesellschafft als Steuerungsmittel – quasi um die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Das Instrument der Selektion sind Noten und Abschlüsse.
Die Frage nach den Prioritäten der Schulfunktionen
Aufhänger für diesen Artikel ist der Tweet einer 17 Jährigen Schülerin:
Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen
Zu Beginn des Artikels haben wir uns die Aufgaben der Schule vergegenwärtigt – jetzt können wir über Sinn und Unsinn der im Tweet zum Ausdruck gebrachten Kritik diskutieren.
Der Tweet spricht die Qualifikationsfunktion der Schule an. Die Schülerin wünscht sich, besser für das reale Leben „qualifiziert“ zu werden. Die Interpretation von Gedichten und das Erlernen von Fremdsprachen erscheinen ihr weniger wichtig. Sie fordert also eine Reduzierung der Integrationsfunktion der Schule. Immerhin dienen Fremdsprachen der Völkerverständigung und die Auseinandersetzung mit Literatur fördert das kritische Denken.
Die Frage ist:
Worauf liegen unsere gesellschaftlichen Prioritäten? Wollen wir kritische, selbst denkende Bürger oder wollen wir Menschen, die sich bestmöglich in den „Status quo“ integrieren?
Immer wenn neue Inhalte in den Lehrplan aufgenommen werden, muss Bestehendes weichen. Das sollten wir bedenken, wenn wie in Finanzblogs üblich (da nehme ich mich nicht aus) die Forderung nach finanzieller Bildung in der Schule laut wird.
Bildung oder Ausbildung? Das Gleichgewicht ist entscheidend
Kritisch wird es meiner Meinung nach, wenn praktische Inhalte zu stark in den Fokus rücken. Bereits heute liegen die Prioritäten der Schulen klar auf der Ausbildung der Schüler für die spätere Eingliederung in die Wirtschaft. Die Betonung liegt auf Ausbildung. Bildung und Ausbildung sind zwei verschiedene paar Schuhe.
Bildung […] bezeichnet die Formung des Menschen im Hinblick auf sein „Menschsein“, seiner geistigen Fähigkeiten.
Ausbildung unterscheidet sich vom allgemeineren Begriff Bildung durch Ihre Vollendung und Zweckbestimmtheit.
Bildungswissen ist im Gegensatz zum Ausbildungswissen zweckunabhängig. Es dient der Herausbildung des „eigenen Ichs“. Die Verdrängung von Bildung zugunsten von Ausbildung hat drastische Folgen. Bernhard Heinzlmeier bringt es etwas überspitzt in seinem lesenswerten Buch Performer, Styler, Egoisten auf den Punkt:
Eigene Interessen und Anlagen werden unterdrückt, anstelle dessen ergreift man jene Ausbildungen, die der Arbeitsmarkt am besten bewertet. Paradigmatisch für diesen Trend sind die vielen Fachhochschulen und Privatuniversitäten, aber auch die nun verschulten und autoritär reglementierten staatlichen Universitäten, in denen Bildung systematisch durch die unkritische Akkumulation von Fachwissen und dessen Abprüfung im geistlosen Multiple-Choice-Verfahren verdrängt wird. In verschulten Ausbildungsgängen werden die Jugendlichen systematisch für die Verwendung in Industrie und Gewerbe hergerichtet, anstelle von Menschenbildung werden Konkurrenz- und Ellenbogenmentalität eingeübt. Der freie Geist wird unter einer Lawine von Regulativen, Normen und Richtlinien erstickt. Am Ende verlässt schön verpacktes und gut portioniertes Humankapital die bildungsökonomisch hoch effizienten Ausbildungsfabriken.5
Ziel muss es sein, das richtige Gleichgewicht zwischen Bildung und Ausbildung zu finden. In meiner schulischen und akademischen Laufbahn hatte ich stets das Gefühl, dass die Ausbildung stark im Vordergrund stand. Daher bin ich skeptisch, wenn Rufe nach immer mehr Praxisbezug der Schulen laut werden. So auch bei dem Tweet der Kölner Schülerin. Steuern, Miete und Versicherungen – das sind Themen, die einen das Leben lehrt. Hier sind Umfeld und Familie gefordert. Problematisch wird es, wenn das Umfeld dazu nicht in der Lage ist. Denn egal wie gut Bildungseinrichtungen sind, wenn Kinder zu Hause vernachlässigt werden, kommen sie schnell an ihre Grenzen.
Die Grenzen der Schulen
Die Möglichkeiten der (Aus)Bildungseinrichtungen dürfen nicht überschätzt werden. In den ersten Lebensjahren entwickelt sich das Gehirn rasant – Lebensjahre, in denen Bildungseinrichtungen kaum Einfluss auf die Kinder haben. Die Eltern entscheiden also maßgeblich über die Zukunft ihrer Kinder. Schenken sie ihnen Liebe und Aufmerksamkeit? Setzen sie ihr Kind vor den Fernseher oder spielen sie mit ihm? Tobt das Kind an der frischen Luft? Sprechen die Eltern mit ihrem Kind?
In der Studie The Early Catastrophe zeigten die beiden Wissenschaftler Betty Hart und Todd R. Risley, dass Kinder aus wohlhabenden und fürsorgenden Familien in den ersten 3 Lebensjahren 30 Millionen mehr Wörter hören als die Kinder der Vergleichsgruppe. Es ist leicht vorstellbar, welche Auswirkungen das auf die kindliche Entwicklung hat. Die Schule muss an der Aufgabe scheitern, diese Defizite wieder wettzumachen. Zumal der Matthäus-Effekt dafür sorgt, dass der Vorsprung der „privilegierten“ Kinder im Zeitverlauf immer größer wird. Von Chancengleichheit kann keine Rede sein.
In der Lehr-Lern-Forschung besagt das Prinzip (stark verkürzt), dass das Vorwissen einen wesentlichen Prädiktor des Lernerfolgs darstellt. Je mehr Vorwissen vorhanden ist, desto höheren Nutzen kann der oder die Lernende aus einem bereitgestellten Lernangebot ziehen.
Individuelle Förderung ist essentiell
Durch die Chancenungleichheit ist es umso wichtiger, dass individuell auf die Bedürfnisse der Schüler eingegangen wird. Noten dürfen lediglich als Gradmesser dienen, um Defizite aufzuzeigen. Dann muss individuell nach den Neigungen der Schüler gefördert werden.
In der Realität werden Noten jedoch primär dazu genutzt, die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Das äußert sich darin, dass jede einzelne Prüfungsnote in die Endnoten für Schule und Abitur eingehen. Lediglich Grundschüler besitzen anfangs einen gewissen „Welpenschutz“. Noten dienen mehr der gesellschaftlichen Rechtfertigung für soziale Ungleichheiten (Leistungsprinzip), als das sie einen Nutzen für die Bildung unserer Kinder hätten.
Geldbildung: Aufgabe der Schulen?
Ist Geldbildung Aufgabe der Schulen? Die Frage möchte ich mit einem JEIN beantworten. Grundlegendes Wissen über das Geldsystem kann hervorragend in den Geschichtsunterricht verpackt werden. Denken wir nur an die Hyperinflation als Folge des Ersten Weltkrieges. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik druckte der Staat Unmengen an Geld, um die Last der Staatsschulden erträglicher zu machen. Spannender kann finanzielle Bildung kaum sein. Aber die Vorstellung, dass in Schulen Geldanlageseminare gehalten werden, finde ich befremdlich.
Entscheidend ist es, die Neugier und den Forschertrieb der Schüler zu wecken. Unsere Bildungseinrichtungen besitzen längst kein Informationsmonopol mehr. Das Internet bietet 24 Stunden am Tag die Möglichkeit, sich sprichwörtlich am gesamten Wissen der Menschheit zu bedienen. Hier können Schulen und Universitäten ansetzen. Wenn sie es schaffen, den Heranwachsenden aufzuzeigen, wie sie selbständig aus Informationen Bildung schaffen, dann ist ein gutes Stück des Weges geschafft.
Das erfordert meiner Meinung nach eine Abkehr vom ständigen „verwiegen und vermessen“ der Kinder. Wenn Schüler Angst haben, ihren Eltern eine korrigierte Klausur zu zeigen, ist schief gelaufen, was nur schief laufen kann. Kinder lernen durch Versuch und Irrtum – und sind damit unglaublich erfolgreich. Wenn wir ihnen die Angst vor Fehlern beibringen, nehmen wir ihnen ihren Forscher- und Entdeckertrieb. Das kann nicht Sinn und Zweck der Sache sein.
Fazit
Bildungsstätten brauchen das richtige Maß zwischen Bildung und Ausbildung. Das Ziel ist in meinen Augen, dass die Schulen und Universitäten neugierige, kritische und zur Selbstreflexion fähige Menschen verlassen. Sie müssen in der Lage und vor allem Willens sein, sich selbständig Wissen anzueignen.
Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen
Der Tweet der Kölner Schülerin zeigt, wie wichtig es ist, dass Menschen stets beide Eigenschaften besitzen:
Die Neugier und die Fähigkeit, sich selbständig Wissen anzueignen.
Die Schülerin bringt zwar Neugier zum Ausdruck, zeigt aber gleichzeitig die Unfähigkeit beziehungsweise mangelnden Willen, sich selbständig Wissen anzueignen. Insofern ist der Ruf nach mehr Praxisbezug der Schulen verständlich, aber ob er hilfreich ist – da habe ich meine Zweifel.
Damit haben wir auch meine Antwort auf die Frage:
Gehört Geldbildung zu den Aufgaben der Schule?
Den Kindern in der Schule die Fähigkeit und den Willen zu vermitteln, sich selbst zu bilden, ist wichtiger als das Wissen an sich. So sehe ich das auch im Bereich der Geldbildung. Kommen Heranwachsende an den Punkt, wo sich Fragen nach Geldanlagen und Versicherungen stellen, gibt es genügend Medien, über die sie sich informieren können.
Die Frage ist, hat es die Schule geschafft, dass sie selbständig aus Informationen Bildung generieren können?
Kann die Frage mit „ja“ beantwortet werden, ist es unnötig Kindern konkretes Wissen über Geldanlage, Steuern und Versicherungen einzuhämmern. Ich bezweifle sowieso, dass der Großteil der Heranwachsenden dafür Begeisterung aufbringen könnte. Warum sollten sie auch?
Ihren Kindern den Umgang mit Geld vorzuleben, sollte Bestandteil der Erziehung der Eltern sein. In großen Teilen ist es ihre Aufgabe, ihre Kinder auf das Leben vorzubereiten – das sollte nicht vergessen werden. Die Schule kann nur unterstützend tätig sein.
Da Heranwachsende ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, möchte ich mit einem Zitat des Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt schließen:
Es ist aber […] noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt.6
Wie hast du unser Schulsystem erlebt? Was denkst du, sind die Aufgaben unserer Bildungsstätten? Sollte finanzielle Bildung einen größeren Raum bekommen?[wysija_form id=“14″]
Dein Finanzkoch
Christoph Geiler
Quellen
Titelbild: © Sergey Nivens – fotolia
*1 vgl. Neues schulpädagogisches Wörterbuch. Weinheim, München 1993, S.118
*2 vgl. Tillmann K.J., Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay. Hier aus: Baumgart, Franzjörg; Lange, Ute (Hg.): Theorien der Schule. Erläuterungen – Texte – Arbeitsaufgaben. Bad Heilbrunn 1999, S. 307
3* vgl. Tillmann K.J., Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay. Hier aus: Baumgart, Franzjörg; Lange, Ute (Hg.): Theorien der Schule. Erläuterungen – Texte – Arbeitsaufgaben. Bad Heilbrunn 1999, S. 306
4* vgl. Tillmann K.J., Ist die Schule ewig? Ein schultheoretisches Essay. Hier aus: Baumgart, Franzjörg; Lange, Ute (Hg.): Theorien der Schule. Erläuterungen – Texte – Arbeitsaufgaben. Bad Heilbrunn 1999, S. 306
*5 Performer, Styler, Egoisten – Über eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben, 3. Auflage August 2013, S. 12
*6 Theorie der Bildung, S. 28 , Hier: Carina Pape, Wa(h)re Bildung – Einführung in Humboldts Bildungskonzept, S. 6