Im Wartebereich unserer Hebamme liegt das wunderbare Buch: „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ von Jorge Bucay. In einer der darin enthaltenen Erzählungen trug sich Folgendes zu …
Ein junger Mann klagt einem älteren sein Leid.
>>Weißt Du, mein Studium bringt mir keine Freude. Vielleicht sollte ich es abbrechen? Ich quäle mich nur noch in die Vorlesungen und der Stoff langweilt mich ins Grab.<<
>>Was überlegst Du dann?<< fragt der alte Mann.
>>Was sollen die Leute denken, wenn ich aufgebe? Ich glaube, ich muss es einfach durchziehen. In den Kreisen, in denen ich verkehre, findet man anders keine Anerkennung. Ohne Studium bringt man es zu nichts. Das Studium ist eine Art Erfolgsgarantie, verstehst Du das?<<
>>Ich verstehe. Lass mich dazu eine Geschichte erzählen.<< antwortete der Alte …
Der Portier im Freudenhaus
Es war einmal ein Portier im Freudenhaus. Er hatte den am wenigsten angesehensten und am schlechtesten bezahlten Beruf des Dorfes. Vor ihm waren bereits sein Vater und sein Großvater Portier im selben Hause. Die Stelle wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben. Da unser Portier weder Lesen noch Schreiben konnte, war er nicht in der Lage, sich einen anderen Beruf zu suchen.
Eines Tages verstarb der Inhaber des Freudenhauses und ein junger innovativer Mann nahm seinen Platz ein. Zu seinem Amtsantritt rief er die gesamte Belegschaft zusammen, um ihnen die neuen Prozessabläufe vorzustellen. Auch unserem Portier wollte er eine zusätzliche Aufgabe übertragen.
>>Bitte zähle unsere Gäste. Jeden fünften fragst Du nach seiner Zufriedenheit und ob er Verbesserungsvorschläge hat. Am Ende jeder Woche legst Du mir einen Bericht vor.<<
>>Aber ich kann weder Lesen noch Schreiben.<< entgegnete unser Portier entsetzt.
>>Dann wirst Du verstehen …<< begann der neue Inhaber
>>Bitte, bitte. Meine Familie arbeitet schon seit …<<
Doch der Inhaber lies ihn nicht ausreden.
>>Du wirst verstehen, dass ich für diese Aufgabe keinen extra Mitarbeiter einstellen kann. Noch kann ich von Dir verlangen, Lesen und Schreiben zu lernen. Ich werde Dir eine anständige Abfindung geben, mit der Du über die Runden kommst, bis du etwas Neues gefunden hast.<<
Betrübt ging unser Portier nach Hause. Was sollte er tun? Er erinnerte sich, dass er von Zeit zu Zeit Stühle, Betten und andere Möbelstücke im Freudenhaus repariert hatte. War etwas kaputt, schlug er einen Nagel hinein und es hielt wieder. Vielleicht könnte er sich ja als Handwerker durchschlagen?
Er suchte seine Wohnung nach Werkzeug ab. Doch bis auf ein paar rostige Nägel fand er nichts.
Schulterzuckend kam er zu der Einsicht, dass er einen Teil seiner Abfindung für neues Werkzeug ausgeben musste, wenn er als Handwerker arbeiten wollte. In seinem Dorf gab es allerdings keinen Eisenwarenhandel. So machte er sich mit seinem Maultier auf den 2 Tagesritt zur nächsten Stadt.
5 Tage später kam er mit einem gut sortierten Werkzeugkasten nach Hause. Kurz nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, klopfte der Nachbar.
>>Entschuldige, hast Du einen Hammer?<<
>>Ja, ich habe gerade einen gekauft. Aber den brauche ich morgen zum arbeiten.<<
>>Keine Sorge, ich bringe ihn Dir gleich morgen früh zurück.<<
Pünktlich stand sein Nachbar am nächsten Morgen mit dem Hammer vor der Tür.
>>Ich bräuchte ihn noch etwas länger und möchte ihn Dir abkaufen. Ich weiß, Du brauchst ihn für die Arbeit und möchte Dich angemessen entlohnen. Ich gebe Dir den Preis für den Hammer und eine Entschädigung für Deine Reisezeit. Dann kannst Du los und Dir einen neuen kaufen. Ich selbst habe leider keine Zeit für die Reise.<<
Unser ehemaliger Portier dachte kurz nach und schlug ein.
Nur wenige Stunden später klopfte es erneut.
>>Ich habe gehört, Du hast Werkzeug gekauft? Ich bräuchte welches. Du bekommst von mir eine Entschädigung für Deine Reisezeit und ein bisschen was auf den Einkaufspreis oben drauf.<<
Unser ehemaliger Portier verkaufte dem Mann eine Zange und einen Schraubendreher. Danach machte sich unser frisch gebackener Werkzeughändler erneut auf die zweitägige Reise zum Eisenwarenhandel.
Dieses Mal kaufe er gleich mehrere Werkzeugkisten. Wenige Tage später hatte er auch diese verkauft. Anscheinend gab es eine rege Nachfrage nach Werkzeug. Kaum jemand war bereit, selbst die beschwerliche Reise auf sich zunehmen. Unser Werkzeughändler entschied sich Geschäftsräume anzumieten, welche er wenig später um Lagerräume erweiterte.
Es sprach sich in den umliegenden Dörfern herum, dass es einen neuen Eisenwarenhandel in der Nähe gab. Er verkaufte so viel, dass er sich nicht mehr selber auf die beschwerliche Reise machen musste, sondern seine Ware geliefert bekam. Und so wuchs und wuchs sein Geschäft …
Irgendwann stellte er sogar einen Schmied an. Von da an produzierte er seine Werkzeuge selbst.
Innerhalb weniger Jahre stampfte er einen florierenden Eisenwarenhandel aus dem Boden und wurde der erfolgreichste Unternehmer der Region. Er wurde so reich, dass er seinem Dorf eine neue Schule stiftete, damit alle Kinder Lesen und Schreiben und lernen konnten.
Zur Einweihungsfeier kamen zahllose Menschen. Als Höhepunkt bat der Bürgermeister unseren erfolgreichen Unternehmer feierlich, auf der ersten Seite des goldenen Buches des Dorfes, welches mittlerweile zur Stadt angewachsen war, seinen Namen und einen kurzen Eintrag zu hinterlassen.
>>Danke für diese Ehre. Aber ich kann weder Lesen noch Schreiben.<< sagte unser Unternehmer.
>>Erstaunlich. Sie haben in wenigen Jahren ein Industrieimperium geschaffen. Stellen Sie sich einmal vor, was sie alles hätten erreichen können, wenn Sie Lesen und Schreiben gelernt hätten.<< antwortete der Bürgermeister.
>>Das kann ich ihnen sagen. Ich wäre jetzt Portier im Freudenhaus …<<
Was würdest Du unserem jungen Mann vom Anfang raten? Soll er sein Studium beenden oder soll er einen anderen Weg einschlagen?
Dein Finanzkoch
Christoph Geiler